Rollenbilder und Albtraumrollen, Istanbul Next Wave, 2009

Siebzehn Künstlerinnen aus Istanbul in der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz

Kunst aus dem Stoff, aus dem die Träume sind, mitunter auch die Albträume, und Kunst, die auffällig oft tatsächlich aus Stoff ist oder zu deren Herstellung genäht, gehäkelt und gestickt wird: Lebt sich in der Kunst der Istanbuler Künstlerinnen, die unter dem Titel „Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel“, das ewig Weibliche aus? – was allerdings seit Rosemarie Trockels Stoffeskapaden in Mitteleuropa auch keinen befremden sollte. Beral Madra, neben Johannes Odenthal unter anderen türkische Mitkuratorin der Ausstellung, spricht von einer Nachmoderne; Postmoderne, übersetze ich mir, und wundere mich, dass gerade an den Rändern Europas die Moderne offenbar gern für eine Epoche gehalten wird, die ihre Zeit hat, kam und verging, wie jede andere auch. Keineswegs für eine kopernikanische Wende, hinter die keiner mehr zurück kann. Trotzdem geht es den Künstlerinnen aus Istanbul – die in der Akademie der Künste am Pariser Platz vorgestellten Künstlerinnen leben auch überwiegend in Istanbul -  keineswegs nur ums Private, eher schon um das Verhältnis zwischen Innen und Außen, Subjektivität und Welt. Und da kommt doch auch schnell das Gefühl der Entfremdung ins Spiel, ein Gefühl, das vielleicht erst wahrgenommen wurde, seit es dazu eine aufgeklärt-revolutionäre Theorie von Marx gab.

Oder geht es eher um ein existenzialistisches Fremdsein in der Welt?, wenn Gözde Ä?lkin über sich erklärt: „Mich interessieren Menschen, die in einem bestimmten Umfeld oder in der Gesellschaft allgemein einander fremd werden. Ich will wissen, wie sich unsere geschlechtlichen und sozialen Rollen unter wechselnden äußeren Bedingungen verändern. Gewöhnlich arbeite ich mit Formen, die ins Amorphe entarten, um die Verwandlung von Identitäten und Körpern zu beschreiben.“
Gözde Ä?lkin bestickt gemusterte Stoffe mit den Umrissen fast unbekleideter und damit um so verletzlich wirkender Körper, die sich strecken, oder krümmen, aufeinander lasten, miteinander verschmelzen oder beziehungslos nebeneinander sitzen – oder stürzen. Gesichtslos sind die Gestalten, sie sind seltsam durchsichtig, während den Dingen, den Schuhen, der sie dürftig und flüchtig bedeckende Kleidung flächige, häufig schwarze, also nichtfarbliche Dichte gegeben wird. Man möchte an die surrealistischen Übungen denken, bei denen die Füße einer Gestalt von einem anderem gemalt werden als der Kopf. So entstehen Wesen, denen der Kopf ganz abhanden gekommen ist oder deren Geschlecht kaum zu bestimmen ist, weil sie beiden Geschlechtern oder dem Habitus nach dem einen und der Gestalt nach dem anderen angehören.


Handan Börüteçene - Reserviert für den Frieden - motus animi continuus, 2002, Digitaldruck auf Kunstfaserplane, Foto: Katalog
Auch Handan Börüteçenes Arbeiten sind alles andere als privat. In riesige mit den Szenen historischer Kunstwerke bedruckte Wachstücher flickt sie mit groben Stich und Draht, als vernähe sie eine Wunde, Ausschnitte aus Bildern von Gewalt, Zerstörung und Flucht, wie wir sie aus den Medien kennen. Verwoben werden sie so in Werke, die von der Auseinandersetzung zwischen Ost und West handeln – von längst vergangenen Kulturkämpfen also, wie das italienische Renaissancegemälde, in dem es um die Schlacht von Lepanto geht, den Sieg der Venezianer über die Konstantinopel, oder das assyrische Schlachtenrelief, das an die griechischen Perserkämpfe denken lässt. Umgeben von einer Borte aus Börsendaten.
Nazan Azeri, die erst Rechtsanwältin war, ehe sie Künstlerin wurde, macht Kleider stellvertretend zu Protagonisten ihrer Träger. Das Hochzeitskleid ihrer Mutter lässt sie in einer Videoarbeit an einem Baum im Wind flattern. Oder Second-Hand-Kleider Traumrollen übernehmen. Nazan Azeri beschreibt ihr Vorgehen so: „Die Gesellschaft lebt in uns selbst, und die Bilder in meinen Arbeiten spiegeln meine Erfahrungen und Erinnerungen, mein Befinden als Frau, die Gesellschaft, in der ich lebe, und den Zustand der Welt, wie sie ist. All das entfaltet eine Wechselwirkung mit den Vorgängen in mir selbst und erfährt so eine Verwandlung in neue Formen.“ In Stoffen stellt sich der Mensch auch in der Alltagswelt dar, und was ist die Kunst anderes als Darstellung? Und: Das Äußere kann es nur dann geben, wenn es ein Inneres gibt, und umgekehrt.
 

Nazan Azeri - Das Hochzeitskleid meiner Mutter - Video 2008 - Foto: Katalog
Gülay SemercioÄ?lu häkelt schließlich abweisende Kissen aus Draht gleich Panzerkettenhemden, mit Mustern sternförmiger, ineinander verwobener Ornamente, wie man sie aus der islamischen Architektur kennt, oder verziert mit Worten. Man erinnert sich an die Brennnesselhemden in den Märchen, darin Jungfern solch Unterkleidung zu ihrer oder ihres Liebsten Erlösung fertigen müssen.
Dabei begann die Geschichte türkischer Malerinnen zu Beginn des letzten Jahrhunderts, und das war damals gerade das Moderne und Revolutionäre, erfahren wir in der Ausstellung auch, besonders mit der Arbeit am Selbstportrait, das sich ja grundsätzlich mehr als jedes andere Genre die Aufgabe der genauen Wiedergabe der Wirklichkeit stellt. Kunst war damals eine Sache der Töchter großbürgerlicher und politisch einflussreicher Familien. Gar nicht so selten studierten sie im Ausland, wie in Rom und Paris  Celile Hikmet Enver (1883 – 1956), deren türkische Vorfahren in Magdeburg und Polen lebten. Sie ist die Mutter des Dichters Nazim Hikmet. Nach dem Ersten Weltkrieg lebte sie zeitweise in Deutschland.
Die Schau zeigt 17 Gegenwartskünstlerinnen. Doch die Werke von Frauen aus der Istanbuler Kunstszene kann man bis zum 17. Januar 2010 natürlich auch in der Ausstellung „Istanbul Modern“ im Gropiusbau und in der Präsentation „Sechs Positionen kritischer Kunst aus Istanbul“  in der alten Akademie am Hanseatenweg studieren. Alle drei Ausstellungen wurden von der Akademie der Künste in Zusammenarbeit mit der Delegation, der Stadtverwaltung, von Istanbul ausgerichtet.
sg.
"Istanbul Modern":
Martin-Gropius-Bau Niederkirchstraße 7/ Ecke Stresemannstraße 110
Mi – Mo 10 – 20 Uhr,bis 17.1.2010
"Sechs Positionen kritischer Kunst aus Istanbul":
Akadmie der Künste Hanseatenweg 10, bis 17.1.2010
"Boden unter meinen Füßen, nicht den Himmel":
Pariser Platz, Di – So 11 – 20 Uhr, bis 3.1.2010
Eintritt für alle drei Standorte zusammen 6 Euro, ermäßigt 4 Ero
„Istanbul Next Wave. Zeitgenössische Kunst aus Istanbul.
Gleichzeitigkeit – Parallelen – Gegensätze.“
Herausgegeben von Johannes Odenthal und Cetin Güzelhan


http://mummmedia.de/wp/2009/11/19/rollenbilder-und-albtraumrollen/